Sie
sitzt auf einem unbequemen Hocker an einem kleinen Tisch und schreibt
mit einem blauen Kugelschreiber in ein blaues Buch. Die Musik aus ihren
Kopfhörern schirmt sie von dem Unitrubel ab. Um sie herum sind hunderte
Menschen, doch sie bemerkt keinen davon. Sie ist abgetaucht in die Welt
die sie nur mit Hilfe ihrer Fantasie erschaffen hat. In diese von
Prinzessinen, Prinzen, Königinnen und Königen bevölkerte Welt, in der
sie sein kann wer auch immer sie will. In der sie nicht von allen
übersehen wird, sondern von den hübschesten Prinzen umschwärmt und in
der sie mit den beliebtesten Prinzessinen befreundet ist.
Sie
ist auf einem königlichen Ball. Der schönste Prinz im ganzen Königreich
fordert sie zum Tanzen auf. Federleicht schwebt sie mit ihm über die
Tanzfläche. Ihr Kleid ist das schönste im Saal. Es funkelt im Licht des
Kronleuchters.
Doch
plötzlich tippt ihr jemand auf die Schulter. Ihre Traumblase zerplatzt.
Der Stift fällt ihr aus der Hand. Auf dem Papier bleibt der Satz in dem
der Prinz sie küssen wollte, unvollendet. Unwillig schaut sie auf.
Neben ihrem Tisch steht der langweilige, schlacksige Streber der sich im
Hörsaal ständig ungebeten neben sie setzt. >>Was?<<, faucht
sie, die Kopfhörer nur ein winziges Stück hebend. >>Hast
du...äh...also...ich...geh einen Kaffee trinken...und äh...magst du
vielleicht mitkommen?" Sein Gesicht leuchtet rot und er gestikuliert
hektisch. >>Du siehst doch wohl, dass ich beschäftigt
bin.<<, faucht sie ungehalten. >>Also nein. Mag ich
nicht.<< >>Oh. Äh. Natürlich. Entschuldige die
Störung.<<, stammelt er und rennt eilig davon. Sie setzt ihre
Kopfhörer wieder auf und hat den Streber im nächsten Moment schon völlig
vergessen. Hat sie doch auf dem Ball von dem Prinzen nicht nur einen
Kuss, sondern auch einen Heiratsantrag bekommen.
Später
sitzt sie zwischen zwei, über langweiliges Zeug redenden, Mädchen, im
Hörsaal, ohne sie wirklich zu mögen. Aber die beiden sind hübsch und
beliebt und bringen sie auf die coolen Partys. Drei andere Mädchen
betreten den Hörsaal. Eines winkt ihr zu, doch sie ignoriert es. Die
drei haben schreckliche Klamotten an und kennen kaum jemanden. Auf
Partys werden die drei nicht eingeladen. In der Schule hatte sie noch
nicht genug Weitsicht, um zu erkennen, dass die drei ihr auf ihrem Weg
nach oben nicht helfen konnten und hatte so viel Zeit mit ihnen
verbracht, dass die wichtigen Mädchen und Jungen sie übersehen hatten.
Doch als sie erkannt hatte, dass es für sie fast zu spät war um
Anschluss an die Elite zu finden, hatte sie den Wechsel an die Uni
genutzt, um neu anzufangen. Damit es auch wirklich nicht mehr lange
dauert, bis sie leben wird wie in dieser anderen Welt. Während der
ganzen Vorlesung kann sie es kaum erwarten nach Hause zu kommen, um ihre
Traumhochzeit schreiben zu können. Was sie dann auch tut. Solange bis
sie auf ihrem Bett liegend über dem Buch einschläft.
Schon
beim Aufwachen bemerkt sie, dass etwas anders ist. Das Bett kommt ihr
sehr viel weicher vor. Außerdem duftet es nach Veilchen. Sie schlägt die
Augen auf. Erblickt eine goldene Decke weit, weit über sich. Erfreut
und verwirrt setzt sie sich auf und schaut sich um. Alles um sie herum
ist genauso wie sie es sich in ihrer Welt erschaffen hat. Ein
gigantisches Schlafzimmer mit Dutzenden Kleider-und Schuhschränken,
Vitrinen voller Schmuck und einem gewaltigen Frisiertisch. Auf dem
Nachttisch neben ihr steht sogar das goldene Glöckchen. Probeweise
läutet sie es und augenblicklich stürmt ein Heer von Dienern herein. In
goldene Livreen gekleidete, junge, muskulöse, gutaussehende Männer,
bereit ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Sie verlangt ein üppiges Frühstück
und sofort eilen Diener los, um es ihr zu bringen. Die verbliebenen
schickt sie erstmal ins Nebenzimmer zurück. Ihr wird noch genug
einfallen, dass sie ihnen zu tun geben kann. Zufrieden sinkt sie in ihre
seidenen Kissen zurück. Natürlich weiß sie, dass das alles nur ein
Traum ist, doch das hindert sie ja nicht daran es zu genießen. Das
Frühstück ist perfekt und sie schlemmt nach Herzenslust. Bis sie satt
ist. Was sie verwirrt inne halten lässt. Es ist ein Traum. Kann sie da
wirklich satt sein? Eigentlich ja nicht. Und da ist noch so viel, dass
sie noch nicht probiert hat. Also isst sie weiter. Doch das Gefühl des
satt seins wandelt sich bald. Sie fühlt sich vollgestopft. Dann wird ihr
langsam schlecht. Das kann doch gar nicht sein. Das hier ist ihre
Traumwelt, die doch nicht als Kulisse für so einen Alptraum dienen kann.
Eilig hört sie auf zu Essen und befiehlt den Dienern die Reste, mit
denen man bestimmt noch zwei Dutzend Menschen satt bekommen würde, aus
dem Zimmer zu schaffen und wegzuschmeißen. Außerdem verlangt sie eine
Wärmflasche. Auch diese besteht aus den kostbarsten Materialien und
fühlt sich unglaublich angenehm an. Dank der wohligen Wärme gleitet sie
bald in Schlaf.
Als
sie schließlich erneut erwacht ist ihr sofort klar, dass sie noch immer
in ihrer Traumwelt ist. Die Seide des Bettes und der Veilchenduft sind
noch da und auf ihrem Bauch spürt sie die inzwischen abgekühlte
Wärmflasche. "Was für ein verrückter Traum.", denkt sie, während sie
sich aufsetzt. "Dann will ich mich mal umsehen." Das filigrane weiße
Nachthemd umschmeichelt sie. Die kleinen Slipper an ihren Füßen machen
kein Geräusch auf dem goldenen Boden. Sie verbringt eine Ewigkeit damit
all die Kleider in den Schränken zu bewundern. Sie lässt ihre Hände über
die teuren Stoffe gleiten. Betrachtet die Verzierungen aus echten
Perlen und Diamanten. Auch den Schmuck bedenkt sie mit der ihm
gebührenden Aufmerksamkeit. Dann nimmt sie einige Stücke an sich, um sie
vor dem Spiegel anzuprobieren. Dort stockt ihr der Atem. Das Gesicht
das ihr aus dem Spiegel entgegenblickt ist ein fremdes. Erst beim
genaueren hinsehen erkennt sie Andeutungen ihres eigentlichen Gesichts.
Das was ihr jetzt entgegenblickt ist die perfektionierte Version davon.
Sie ist jetzt überirdisch schön. Jetzt fällt ihr auch auf, dass sie viel
schlanker und größer ist als früher. Das sie mehr Busen hat und weniger
Po. Sie läuft zu den riesigen Spiegeln in der Ecke und betrachtet sich
von allen Seiten ganz genau. Sie ist perfekt. Ihre Locken, ihr Körper,
ihre graden, blitzblanken Zähne. Alles an ihr ist perfekt. Begeistert
stürzt sie zu der Klingel, um ihre Diener herbeizuläuten. Sie muss
unbedingt Kleider anprobieren. Das sie den vorher aus der Vitrine
genommenen Schmuck vor dem Frisiertisch hat fallen lassen und etwas
davon kaputt gegangen ist, fällt ihr jetzt erst auf. Doch es
interessiert sie kaum. Sie hat ja noch genug Schmuck zur Auswahl. Die
Diener kommen herein und einer teilt ihr mit, dass sie am Abend auf dem
Ball einer befreundeten Prinzessin erwartet werde. In heller Aufregung
rennt sie daraufhin zwischen den Kleiderschränken hin und her, um sich
schließlich für ein wunderschönes, blutrotes Kleid zu entscheiden. Das
Ankleiden, Frisieren, Schminken dauert länger als sie erwartet hätte, da
sie ja eigentlich schon perfekt ist, doch das stört sie nicht. Sie ist
viel zu aufgeregt. Endlich wird sie auf einem Ball tanzen. Doch als sie
schließlich fertig ist, bezweifelt sie, dass das mit dem Tanzen etwas
wird. Das Kleid und die Unterröcke sind zwar aus feinsten Stoffen, doch
schwer sind sie dennoch. Und auch der Schmuck hat sein Gewicht. Und ihre
Frisur darf nicht in Unordnung geraten, weshalb sie den Kopf nur
minimal bewegen kann. Doch so gehört es sich. So machen es alle. Also
schreitet sie zu ihrer Kutsche, die natürlich golden ist und von weißen
Pferden gezogen wird. Diener helfen ihr in die Kutsche und kaum sitzt
sie in den weichen Polstern sind all ihre Zweifel verflogen. Dieser
Abend kann nur zauberhaft werden. Langsam setzt sich die Kutsche in
Bewegung. Sie lassen das große Schloss hinter sich und rollen über das
Pflaster durch den gewaltigen Garten. Sie hat Spaß an dieser Kutschfahrt
und in Gedanken ist sie schon auf dem Ball. Doch dann verlassen sie das
Anwesen und die Kutsche nimmt auf sehr viel unebenerem Boden richtig
Fahrt auf. Sie wird ordentlich durchgeschüttelt, was erneut ein Gefühl
von Übelkeit verursacht. Und als sie schließlich am Schloss der
befreundeten Prinzessin ankommt bemerkt sie in der spiegelnden
Kutschenwand ihre in Unordnung geratene Frisur. Hektisch bringt sie sie
wieder in Ordnung. Auf einem Ball muss man perfekt aussehen. Diener
helfen ihr aus der Kutsche. Sie befiehlt ihnen den Kutscher zu feuern
und einen besseren aufzutreiben.
Der
Ball ist genauso wie sie es sich vorgestellt hat. Alle Prinzessinen
sind einerseits neidisch auf sie und andererseits ihre besten
Freundinnen. Und die Prinzen wollen alle mit ihr tanzen. Die anderen,
weniger adligen Gäste, beachtet sie nicht, selbst wenn diese sie direkt
ansprechen und nicht hässlich sind. Schließlich kommt der Tanz mit dem
schönsten Prinzen. Sie tanzt wie eine Göttin und der Prinz ist so
verzaubert von ihr, dass er sofort um ihre Hand anhält. Natürlich
willigt sie ein.
Die
Hochzeit ist das rauschenste Fest aller Zeiten. Das Schloss in dem sie
mit dem Prinzen lebt hat unendlich viele Zimmer und sie kann auf so
viele Bälle gehen wie sie will. Sie kann sich jeden Tag Dutzende neue
Kleider kaufen, immer genau das Essen worauf sie Lust hat und auch
ansonsten tun was ihr gefällt. Und ihr Ehemann macht ihr Geschenke,
liest ihr alle Wünsche von den Augen ab und behandelt sie wie eine
Göttin.
Es ist ihr perfektes Leben.
Schließlich
hat sie alles gemacht. Alle Speisen der Welt gekostet und jeden
wichtigen Menschen getroffen. Ihr Leben wird eintönig. Die Bälle
langweilen sie. Ihr Ehemann langweilt sie da er ihr nicht mehr zu sagen
hat, als die immer gleichen Komplimente. Und sie isst nur noch, weil sie
muss. Selbst die besten Süßigkeiten erzeugen keine Freude mehr. Dafür
fangen sie an, sie zunehmen zu lassen. Plötzlich muss sie anfangen Sport
zu treiben, um ihre perfekte Figur behalten zu können. Doch es wird nie
ganz wie vorher. Da sie nicht nur ständig ihr Gewicht verändert,
sondern auch deutlich altert, verlässt ihr Ehemann sie. Er ist selbst
fett, alt und wahnsinnig unansehnlich geworden. Bald sieht sie ihn mit
einer Anderen. Diese Andere ist jung und wunderschön. Nicht so perfekt
wie sie es war. Was sie tief trifft. Wie kann sich der Prinz mit so
etwas zufrieden geben, nachdem er sie hatte?
Dann
hört sie von den Operationen die Jugend und Schönheit zurückgeben
können. Von den Operationen die perfekt machen. Sie zögert keine
Sekunde. Investiert eine Menge Geld. Bald ist an ihr kaum mehr etwas
natürlich, doch die Prinzen fangen wieder an sie zu umschwärmen. Aber es
reicht ihr nicht. In ihren Augen ist ihre frühere Perfektion noch lange
nicht erreicht. Denn sonst wären auch die Prinzen die um sie werben
schöner. Also investiert sie mehr und immer mehr. Lässt sich immer
weiter behandeln, bis sie so entstellt ist, dass sie kaum noch als
Mensch zu erkennen ist. Ihr Schloss hat sie schon lange nicht mehr.
Ebenso wenig ihre Kleider und ihren Schmuck. Alles was ihr geblieben
ist, sind ein paar Lumpen und ein Stock ohne den sie sich nicht aufrecht
halten kann. All ihre alten Freunde und Freundinnen behandeln sie schon
seit langem wie sie alles behandeln, dass sie als nicht gut genug
betrachten. So als wäre sie nicht existent.
Frierend
und hungrig kauert sie am Straßenrand. Auch die Nicht-Adligen beachten
sie nicht. Jeder kennt ihre Geschichte. Jeder weiß, wie sie mit denen
umgegangen ist, die sie für nicht gut genug hielt. So gehen ihre Tage
dahin. Bis sie so schwach ist, dass sie nicht mal mehr den Kopf heben
kann. So liegt sie im strömenden Regen. Überzeugt das sie den nächsten
Tag nicht mehr erleben wird. Es ist ein erfreulicher Gedanke. Schon halb
im Delirium bemerkt sie plötzlich wie sich jemand über sie beugt.
Verschwommen sieht sie das Gesicht eines Mannes. Es ist ein Gesicht
voller Narben und mit nur einem Auge. Das linke fehlt. Sie hört ihn
etwas nuscheln, das klingt wie: >>Hier gehörste nich her.<<
Als er sie hochhebt, will sie protestieren, doch sie schafft nur ein
müdes keuchen. Vorsichtig trägt er sie durch die Stadt. Irgendwann
treten sie vom Regen ins Trockenen. Sie hört Holzboden knarren, doch
sehen kann sie nichts. Seid einer Operation hatte sie sowieso schon
Probleme die Augen offen zu halten und jetzt kann sie diese Kraft gar
nicht mehr aufbringen. Er legt sie ab. Und es ist wunderbar. Sie hat
schon sehr lange nicht mehr so bequem gelegen. >>Isch mach
Suppe.<<, nuschelt der Mann. Bald duftet es herrlich. Er flößt ihr
Suppe ein. Kurz darauf schläft sie ein.
In
den nächsten Tagen pflegt er sie, bis sie wieder aufrecht sitzen, die
Augen offen halten und sprechen kann. Das Haus ist winzig. Baufällig und
voller kaputter Möbel. Die Betten bestehen nur aus Laken. Die Suppe die
es jeden Tag gibt ist dünn. Das Brot hart. Es ist fast gar nichts und
trotzdem teilt er es. Sie kann es nicht glauben. Versteht die Welt nicht
mehr. Kann nicht glauben, dass jemand so gut zu ihr ist, nachdem sie so
furchtbar gewesen ist.
Sie
will und kann gar nicht zählen wie viele Menschen ihretwegen arbeitslos
wurden. Wie viele sie gekränkt und wie Dreck behandelt hat.
Sie
würde ihn gern fragen, was ihm geschehen ist. Woher diese Narben
stammen. Doch dazu hat sie kein Recht. Also bedankt sie sich einfach
nur. Sie bedankt sich immer und immer wieder. Er winkt immer wieder ab.
Schließlich will sie das Haus verlassen. Sie ist wieder gesund und hat
daher keinen Grund mehr zu bleiben. Doch er meint sie solle bleiben. Sie
könne ihm beim Verkaufen seiner Töpferwaren helfen. Es ist keine sehr
einträgliche Arbeit. Mit seinen, ebenfalls von Narben bedeckten Händen,
ist er nicht mehr so geschickt wie er es früher wohl gewesen ist. Er
erzählt ihr, dass er früher richtige Kunstwerke aus Ton geschaffen hat.
Jetzt sind es nur noch leicht schiefe Becher und Schalen die kaum jemand
kaufen will. Nur die Armen kommen zu ihnen. Doch sie kommen über die
Runden und freunden sich langsam an. Bis er eines Tages einfach
verschwindet. Es dauert lange bis sie herausfindet, was geschehen ist.
Eine reiche, junge Dame hat ihn angezeigt und behauptet von ihm
überfalln worden zu sein. Sie weiß genau, dass er sowas niemals tun
würde und das versucht sie den Behörden zu sagen. Doch niemand hört ihr
zu. Verzweifelt kehrt sie in die Hütte zurück. Ohne ihn ist es dort leer
und kalt. Doch sie hat keine Chance ihn zurück zu bekommen. Einige Tage
später findet sie heraus, dass die junge Frau die ihn angezeigt hat,
die neue Ehefrau des Prinzen ist. Vielleicht kann sie ja mit ihr reden.
Ein Teil von ihr weiß ganz genau, dass es nichts bringen wird, aber ein
anderer gibt die Hoffnung nicht auf. Sie kommt nicht mal auf das
Anwesen. Es gibt keine Chance für sie mit dieser Frau zu reden. Für
diese Frau existiert sie nicht.
Am
nächsten Tag wird er hingerichtet. Sie steht am Rand der Menge. Er
sieht sie und lächelt ihr zu, bevor man ihn auf die Knie drückt. Sie
wendet den Blick ab, als der Henker die Axt herabsausen lässt. Doch das
dumpfe Geräusch des fallenden Schädels hört sie deutlich. Es brennt sich
ihr ein. Mit einem Gefühl der Leere, wie sie es vorher noch nie
empfunden hat, wankt sie zu der Hütte. Sie ist noch einige Straßen davon
entfernt, als sie im Matsch etwas goldenes sieht. Es ist ein Ohrring
mit einem grünen Stein. Eine Erinnerung blitzt in ihr auf. An ein junges
Mädchen, dass an einem neuen Ort aufwachte, alles für einen Traum hielt
und in einem Anfall von wilder Freude zwei Hände voll Schmuck fallen
ließ. Das Gefühl in einem Traum zu sein hat sie schon vor sehr langer
Zeit verloren. Dafür ist alles um sie herum viel zu echt. Und sie hätte
schon längst aufwachen müssen. Schließlich sind Jahrzehnte vergangen.
Und zwar Tag für Tag. Nein. Es kann kein Traum sein. Und selbst wenn,
ist es völlig gleichgültig. Sie ist hier und kommt nicht fort. Dabei
will sie nichts mehr als das. Fort. Weit fort. Weg von dieser Leere.
Sie
ändert die Richtung. Wankt nicht zu der Hütte. Sie geht sehr weit. Es
ist anstrengend und sie muss immer wieder Pausen einlegen. Doch sie
schafft es. Schließlich steht sie in dem Wald, hinter dem das Schloss
des Prinzen liegt. Sie steht an einer Stelle an der sie, auf dem Weg zu
den Bällen, hunderte Male vorbeigefahren ist. Eine sehr abschüssige
Stelle. Es geht weit runter. Unten sind nur Steine. Große, dunkle
Steine. Sie atmet einmal durch. Lässt ihren Stock fallen. Kippt nach
vorne. Sie fällt nur kurz. Mit einem Klatschen landet ihr Körper auf den
Steinen. Dort bleibt sie liegen. Oben fahren Dutzende Kutschen über den
Waldweg. Auch Wanderer kommen vorbei. Doch niemand schaut in den Graben
hinab.
Sie ist im Tod so einsam wie sie es im Leben gewesen ist.
Sie
erwacht auf ihrem Bett. Mit dem Gesicht auf dem aufgeschlagenen
Notizbuch. Der Stift rollt zu Boden, als sie sich aufsetzt. Sie ist
verwirrt. Kann nicht glauben, dass das alles wirklich nur ein Traum
gewesen sein soll. Es fühlte sich so echt an. Mit wackeligen Beinen
schleicht sie zu ihrem Spiegel. Wagt es kaum hinein zu sehen. Als sie es
schließlich tut, schreit sie vor Freude. Ihr ganz normales Gesicht
blickt ihr entgegen. Ihre Mitbewohnerin klopft und fragt ob alles in Ordnung sei. Sie erwiedert überschwenglich, dass es niemals besser gewesen sei.
In
der Uni verabschiedet sie sich von den Mädchen die sie nicht mag und
entschuldigt sich bei ihren Schulfreundinnen. Die lassen sie eine ganze
Weile zappeln, akzeptieren die Entschuldigung aber schließlich. Als ihr
das geglückt ist, nimmt sie allen Mut zusammen, um sich auch bei dem
jungen Mann zu entschuldigen, der sie um Gesellschaft beim Kaffetrinken
bat. Der ist darüber mehr als erstaunt. Vor allem, als sie ihm dann auch
noch einen Kaffee ausgibt und sie sich eine ganze Weile unterhalten.
Sie stellt fest, dass er gar nicht langweilig ist.
Als
sie an diesem Abend von der Uni nach Hause geht, sieht sie einen
Bettler an einer Straßenecke sitzen. Er hält den Kopf gesenkt, hat sich
in eine braune Decke gewickelt, trägt eine Mütze und murmelt vor sich
hin. Vor ihm steht eine schlichte, schiefe Tonschale, in der etwas
Kleingeld liegt. Sie geht zu ihm und wirft eine handvoll Münzen in die
Schale. >>Danke.<<, nuschelt er und schaut auf. Sein Gesicht
ist voller Narben und über dem linken Auge trägt er eine Klappe.
Entgeistert starrt sie ihn an. >>Alles klar, Missi?<<, fragt
er brummig. >>Ja...aber....ach nichts.<< Sie geht eilig
weiter. Und hört ihn murmeln: >>Hier gehörste hin.<<
Erschrocken bleibt sie stehen. Dreht sich um. Der Bettler sitzt so da,
wie in dem Moment als sie auf ihn zu ging. Er murmelt nur
unverständliches Zeug. Ihre Fantasie muss ihr einen Streich gespielt
haben. Etwas anderes ist auch nicht möglich.
Oder?
Lillith Lefuet am 25.05.17
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