Donnerstag, 25. Mai 2017

Perfekte Welt (Kurzgeschichte von Lillith Lefuet)

Sie sitzt auf einem unbequemen Hocker an einem kleinen Tisch und schreibt mit einem blauen Kugelschreiber in ein blaues Buch. Die Musik aus ihren Kopfhörern schirmt sie von dem Unitrubel ab. Um sie herum sind hunderte Menschen, doch sie bemerkt keinen davon. Sie ist abgetaucht in die Welt die sie nur mit Hilfe ihrer Fantasie erschaffen hat. In diese von Prinzessinen, Prinzen, Königinnen und Königen bevölkerte Welt, in der sie sein kann wer auch immer sie will. In der sie nicht von allen übersehen wird, sondern von den hübschesten Prinzen umschwärmt und in der sie mit den beliebtesten Prinzessinen befreundet ist. 
Sie ist auf einem königlichen Ball. Der schönste Prinz im ganzen Königreich fordert sie zum Tanzen auf. Federleicht schwebt sie mit ihm über die Tanzfläche. Ihr Kleid ist das schönste im Saal. Es funkelt im Licht des Kronleuchters. 
Doch plötzlich tippt ihr jemand auf die Schulter. Ihre Traumblase zerplatzt. Der Stift fällt ihr aus der Hand. Auf dem Papier bleibt der Satz in dem der Prinz sie küssen wollte, unvollendet. Unwillig schaut sie auf. Neben ihrem Tisch steht der langweilige, schlacksige Streber der sich im Hörsaal ständig ungebeten neben sie setzt. >>Was?<<, faucht sie, die Kopfhörer nur ein winziges Stück hebend. >>Hast du...äh...also...ich...geh einen Kaffee trinken...und äh...magst du vielleicht mitkommen?" Sein Gesicht leuchtet rot und er gestikuliert hektisch. >>Du siehst doch wohl, dass ich beschäftigt bin.<<, faucht sie ungehalten. >>Also nein. Mag ich nicht.<< >>Oh. Äh. Natürlich. Entschuldige die Störung.<<, stammelt er und rennt eilig davon. Sie setzt ihre Kopfhörer wieder auf und hat den Streber im nächsten Moment schon völlig vergessen. Hat sie doch auf dem Ball von dem Prinzen nicht nur einen Kuss, sondern auch einen Heiratsantrag bekommen. 
Später sitzt sie zwischen zwei, über langweiliges Zeug redenden, Mädchen, im Hörsaal, ohne sie wirklich zu mögen. Aber die beiden sind hübsch und beliebt und bringen sie auf die coolen Partys. Drei andere Mädchen betreten den Hörsaal. Eines winkt ihr zu, doch sie ignoriert es. Die drei haben schreckliche Klamotten an und kennen kaum jemanden. Auf Partys werden die drei nicht eingeladen. In der Schule hatte sie noch nicht genug Weitsicht, um zu erkennen, dass die drei ihr auf ihrem Weg nach oben nicht helfen konnten und hatte so viel Zeit mit ihnen verbracht, dass die wichtigen Mädchen und Jungen sie übersehen hatten. Doch als sie erkannt hatte, dass es für sie fast zu spät war um Anschluss an die Elite zu finden, hatte sie den Wechsel an die Uni genutzt, um neu anzufangen. Damit es auch wirklich nicht mehr lange dauert, bis sie leben wird wie in dieser anderen Welt. Während der ganzen Vorlesung kann sie es kaum erwarten nach Hause zu kommen, um ihre Traumhochzeit schreiben zu können. Was sie dann auch tut. Solange bis sie auf ihrem Bett liegend über dem Buch einschläft. 

Schon beim Aufwachen bemerkt sie, dass etwas anders ist. Das Bett kommt ihr sehr viel weicher vor. Außerdem duftet es nach Veilchen. Sie schlägt die Augen auf. Erblickt eine goldene Decke weit, weit über sich. Erfreut und verwirrt setzt sie sich auf und schaut sich um. Alles um sie herum ist genauso wie sie es sich in ihrer Welt erschaffen hat. Ein gigantisches Schlafzimmer mit Dutzenden Kleider-und Schuhschränken, Vitrinen voller Schmuck und einem gewaltigen Frisiertisch. Auf dem Nachttisch neben ihr steht sogar das goldene Glöckchen. Probeweise läutet sie es und augenblicklich stürmt ein Heer von Dienern herein. In goldene Livreen gekleidete, junge, muskulöse, gutaussehende Männer, bereit ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Sie verlangt ein üppiges Frühstück und sofort eilen Diener los, um es ihr zu bringen. Die verbliebenen schickt sie erstmal ins Nebenzimmer zurück. Ihr wird noch genug einfallen, dass sie ihnen zu tun geben kann. Zufrieden sinkt sie in ihre seidenen Kissen zurück. Natürlich weiß sie, dass das alles nur ein Traum ist, doch das hindert sie ja nicht daran es zu genießen. Das Frühstück ist perfekt und sie schlemmt nach Herzenslust. Bis sie satt ist. Was sie verwirrt inne halten lässt. Es ist ein Traum. Kann sie da wirklich satt sein? Eigentlich ja nicht. Und da ist noch so viel, dass sie noch nicht probiert hat. Also isst sie weiter. Doch das Gefühl des satt seins wandelt sich bald. Sie fühlt sich vollgestopft. Dann wird ihr langsam schlecht. Das kann doch gar nicht sein. Das hier ist ihre Traumwelt, die doch nicht als Kulisse für so einen Alptraum dienen kann. Eilig hört sie auf zu Essen und befiehlt den Dienern die Reste, mit denen man bestimmt noch zwei Dutzend Menschen satt bekommen würde, aus dem Zimmer zu schaffen und wegzuschmeißen. Außerdem verlangt sie eine Wärmflasche. Auch diese besteht aus den kostbarsten Materialien und fühlt sich unglaublich angenehm an. Dank der wohligen Wärme gleitet sie bald in Schlaf. 

Als sie schließlich erneut erwacht ist ihr sofort klar, dass sie noch immer in ihrer Traumwelt ist. Die Seide des Bettes und der Veilchenduft sind noch da und auf ihrem Bauch spürt sie die inzwischen abgekühlte Wärmflasche. "Was für ein verrückter Traum.", denkt sie, während sie sich aufsetzt. "Dann will ich mich mal umsehen."  Das filigrane weiße Nachthemd umschmeichelt sie. Die kleinen Slipper an ihren Füßen machen kein Geräusch auf dem goldenen Boden. Sie verbringt eine Ewigkeit damit all die Kleider in den Schränken zu bewundern. Sie lässt ihre Hände über die teuren Stoffe gleiten. Betrachtet die Verzierungen aus echten Perlen und Diamanten. Auch den Schmuck bedenkt sie mit der ihm gebührenden Aufmerksamkeit. Dann nimmt sie einige Stücke an sich, um sie vor dem Spiegel anzuprobieren. Dort stockt ihr der Atem. Das Gesicht das ihr aus dem Spiegel entgegenblickt ist ein fremdes. Erst beim genaueren hinsehen erkennt sie Andeutungen ihres eigentlichen Gesichts. Das was ihr jetzt entgegenblickt ist die perfektionierte Version davon. Sie ist jetzt überirdisch schön. Jetzt fällt ihr auch auf, dass sie viel schlanker und größer ist als früher. Das sie mehr Busen hat und weniger Po. Sie läuft zu den riesigen Spiegeln in der Ecke und betrachtet sich von allen Seiten ganz genau. Sie ist perfekt. Ihre Locken, ihr Körper, ihre graden, blitzblanken Zähne. Alles an ihr ist perfekt. Begeistert stürzt sie zu der Klingel, um ihre Diener herbeizuläuten. Sie muss unbedingt Kleider anprobieren. Das sie den vorher aus der Vitrine genommenen Schmuck vor dem Frisiertisch hat fallen lassen und etwas davon kaputt gegangen ist, fällt ihr jetzt erst auf. Doch es interessiert sie kaum. Sie hat ja noch genug Schmuck zur Auswahl. Die Diener kommen herein und einer teilt ihr mit, dass sie am Abend auf dem Ball einer befreundeten Prinzessin erwartet werde. In heller Aufregung rennt sie daraufhin zwischen den Kleiderschränken hin und her, um sich schließlich für ein wunderschönes, blutrotes Kleid zu entscheiden. Das Ankleiden, Frisieren, Schminken dauert länger als sie erwartet hätte, da sie ja eigentlich schon perfekt ist, doch das stört sie nicht. Sie ist viel zu aufgeregt. Endlich wird sie auf einem Ball tanzen. Doch als sie schließlich fertig ist, bezweifelt sie, dass das mit dem Tanzen etwas wird. Das Kleid und die Unterröcke sind zwar aus feinsten Stoffen, doch schwer sind sie dennoch. Und auch der Schmuck hat sein Gewicht. Und ihre Frisur darf nicht in Unordnung geraten, weshalb sie den Kopf nur minimal bewegen kann. Doch so gehört es sich. So machen es alle. Also schreitet sie zu ihrer Kutsche, die natürlich golden ist und von weißen Pferden gezogen wird. Diener helfen ihr in die Kutsche und kaum sitzt sie in den weichen Polstern sind all ihre Zweifel verflogen. Dieser Abend kann nur zauberhaft werden. Langsam setzt sich die Kutsche in Bewegung. Sie lassen das große Schloss hinter sich und rollen über das Pflaster durch den gewaltigen Garten. Sie hat Spaß an dieser Kutschfahrt und in Gedanken ist sie schon auf dem Ball. Doch dann verlassen sie das Anwesen und die Kutsche nimmt auf sehr viel unebenerem Boden richtig Fahrt auf. Sie wird ordentlich durchgeschüttelt, was erneut ein Gefühl von Übelkeit verursacht. Und als sie schließlich am Schloss der befreundeten Prinzessin ankommt bemerkt sie in der spiegelnden Kutschenwand ihre in Unordnung geratene Frisur. Hektisch bringt sie sie wieder in Ordnung. Auf einem Ball muss man perfekt aussehen. Diener helfen ihr aus der Kutsche. Sie befiehlt ihnen den Kutscher zu feuern und einen besseren aufzutreiben. 

Der Ball ist genauso wie sie es sich vorgestellt hat. Alle Prinzessinen sind einerseits neidisch auf sie und andererseits ihre besten Freundinnen. Und die Prinzen wollen alle mit ihr tanzen. Die anderen, weniger adligen Gäste, beachtet sie nicht, selbst wenn diese sie direkt ansprechen und nicht hässlich sind. Schließlich kommt der Tanz mit dem schönsten Prinzen. Sie tanzt wie eine Göttin und der Prinz ist so verzaubert von ihr, dass er sofort um ihre Hand anhält. Natürlich willigt sie ein. 
Die Hochzeit ist das rauschenste Fest aller Zeiten. Das Schloss in dem sie mit dem Prinzen lebt hat unendlich viele Zimmer und sie kann auf so viele Bälle gehen wie sie will. Sie kann sich jeden Tag Dutzende neue Kleider kaufen, immer genau das Essen worauf sie Lust hat und auch ansonsten tun was ihr gefällt. Und ihr Ehemann macht ihr Geschenke, liest ihr alle Wünsche von den Augen ab und behandelt sie wie eine Göttin. 
Es ist ihr perfektes Leben. 

Schließlich hat sie alles gemacht. Alle Speisen der Welt gekostet und jeden wichtigen Menschen getroffen. Ihr Leben wird eintönig. Die Bälle langweilen sie. Ihr Ehemann langweilt sie da er ihr nicht mehr zu sagen hat, als die immer gleichen Komplimente. Und sie isst nur noch, weil sie muss. Selbst die besten Süßigkeiten erzeugen keine Freude mehr. Dafür fangen sie an, sie zunehmen zu lassen. Plötzlich muss sie anfangen Sport zu treiben, um ihre perfekte Figur behalten zu können. Doch es wird nie ganz wie vorher. Da sie nicht nur ständig ihr Gewicht verändert, sondern auch deutlich altert, verlässt ihr Ehemann sie. Er ist selbst fett, alt und wahnsinnig unansehnlich geworden. Bald sieht sie ihn mit einer Anderen. Diese Andere ist jung und wunderschön. Nicht so perfekt wie sie es war. Was sie tief trifft. Wie kann sich der Prinz mit so etwas zufrieden geben, nachdem er sie hatte? 
Dann hört sie von den Operationen die Jugend und Schönheit zurückgeben können. Von den Operationen die perfekt machen. Sie zögert keine Sekunde. Investiert eine Menge Geld. Bald ist an ihr kaum mehr etwas natürlich, doch die Prinzen fangen wieder an sie zu umschwärmen. Aber es reicht ihr nicht. In ihren Augen ist ihre frühere Perfektion noch lange nicht erreicht. Denn sonst wären auch die Prinzen die um sie werben schöner. Also investiert sie mehr und immer mehr. Lässt sich immer weiter behandeln, bis sie so entstellt ist, dass sie kaum noch als Mensch zu erkennen ist. Ihr Schloss hat sie schon lange nicht mehr. Ebenso wenig ihre Kleider und ihren Schmuck. Alles was ihr geblieben ist, sind ein paar Lumpen und ein Stock ohne den sie sich nicht aufrecht halten kann. All ihre alten Freunde und Freundinnen behandeln sie schon seit langem wie sie alles behandeln, dass sie als nicht gut genug betrachten. So als wäre sie nicht existent. 

Frierend und hungrig kauert sie am Straßenrand. Auch die Nicht-Adligen beachten sie nicht. Jeder kennt ihre Geschichte. Jeder weiß, wie sie mit denen umgegangen ist, die sie für nicht gut genug hielt. So gehen ihre Tage dahin. Bis sie so schwach ist, dass sie nicht mal mehr den Kopf heben kann. So liegt sie im strömenden Regen. Überzeugt das sie den nächsten Tag nicht mehr erleben wird. Es ist ein erfreulicher Gedanke. Schon halb im Delirium bemerkt sie plötzlich wie sich jemand über sie beugt. Verschwommen sieht sie das Gesicht eines Mannes. Es ist ein Gesicht voller Narben und mit nur einem Auge. Das linke fehlt. Sie hört ihn etwas nuscheln, das klingt wie: >>Hier gehörste nich her.<< Als er sie hochhebt, will sie protestieren, doch sie schafft nur ein müdes keuchen. Vorsichtig trägt er sie durch die Stadt. Irgendwann treten sie vom Regen ins Trockenen. Sie hört Holzboden knarren, doch sehen kann sie nichts. Seid einer Operation hatte sie sowieso schon Probleme die Augen offen zu halten und jetzt kann sie diese Kraft gar nicht mehr aufbringen. Er legt sie ab. Und es ist wunderbar. Sie hat schon sehr lange nicht mehr so bequem gelegen. >>Isch mach Suppe.<<, nuschelt der Mann. Bald duftet es herrlich. Er flößt ihr Suppe ein. Kurz darauf schläft sie ein. 
In den nächsten Tagen pflegt er sie, bis sie wieder aufrecht sitzen, die Augen offen halten und sprechen kann. Das Haus ist winzig. Baufällig und voller kaputter Möbel. Die Betten bestehen nur aus Laken. Die Suppe die es jeden Tag gibt ist dünn. Das Brot hart. Es ist fast gar nichts und trotzdem teilt er es. Sie kann es nicht glauben. Versteht die Welt nicht mehr. Kann nicht glauben, dass jemand so gut zu ihr ist, nachdem sie so furchtbar gewesen ist. 
Sie will und kann gar nicht zählen wie viele Menschen ihretwegen arbeitslos wurden. Wie viele sie gekränkt und wie Dreck behandelt hat. 
Sie würde ihn gern fragen, was ihm geschehen ist. Woher diese Narben stammen. Doch dazu hat sie kein Recht. Also bedankt sie sich einfach nur. Sie bedankt sich immer und immer wieder. Er winkt immer wieder ab. Schließlich will sie das Haus verlassen. Sie ist wieder gesund und hat daher keinen Grund mehr zu bleiben. Doch er meint sie solle bleiben. Sie könne ihm beim Verkaufen seiner Töpferwaren helfen. Es ist keine sehr einträgliche Arbeit. Mit seinen, ebenfalls von Narben bedeckten Händen, ist er nicht mehr so geschickt wie er es früher wohl gewesen ist. Er erzählt ihr, dass er früher richtige Kunstwerke aus Ton geschaffen hat. Jetzt sind es nur noch leicht schiefe Becher und Schalen die kaum jemand kaufen will. Nur die Armen kommen zu ihnen. Doch sie kommen über die Runden und freunden sich langsam an. Bis er eines Tages einfach verschwindet. Es dauert lange bis sie herausfindet, was geschehen ist. Eine reiche, junge Dame hat ihn angezeigt und behauptet von ihm überfalln worden zu sein. Sie weiß genau, dass er sowas niemals tun würde und das versucht sie den Behörden zu sagen. Doch niemand hört ihr zu. Verzweifelt kehrt sie in die Hütte zurück. Ohne ihn ist es dort leer und kalt. Doch sie hat keine Chance ihn zurück zu bekommen. Einige Tage später findet sie heraus, dass die junge Frau die ihn angezeigt hat, die neue Ehefrau des Prinzen ist. Vielleicht kann sie ja mit ihr reden. Ein Teil von ihr weiß ganz genau, dass es nichts bringen wird, aber ein anderer gibt die Hoffnung nicht auf. Sie kommt nicht mal auf das Anwesen. Es gibt keine Chance für sie mit dieser Frau zu reden. Für diese Frau existiert sie nicht. 

Am nächsten Tag wird er hingerichtet. Sie steht am Rand der Menge. Er sieht sie und lächelt ihr zu, bevor man ihn auf die Knie drückt. Sie wendet den Blick ab, als der Henker die Axt herabsausen lässt. Doch das dumpfe Geräusch des fallenden Schädels hört sie deutlich. Es brennt sich ihr ein. Mit einem Gefühl der Leere, wie sie es vorher noch nie empfunden hat, wankt sie zu der Hütte. Sie ist noch einige Straßen davon entfernt, als sie im Matsch etwas goldenes sieht. Es ist ein Ohrring mit einem grünen Stein. Eine Erinnerung blitzt in ihr auf. An ein junges Mädchen, dass an einem neuen Ort aufwachte, alles für einen Traum hielt und in einem Anfall von wilder Freude zwei Hände voll Schmuck fallen ließ. Das Gefühl in einem Traum zu sein hat sie schon vor sehr langer Zeit verloren. Dafür ist alles um sie herum viel zu echt. Und sie hätte schon längst aufwachen müssen. Schließlich sind Jahrzehnte vergangen. Und zwar Tag für Tag. Nein. Es kann kein Traum sein. Und selbst wenn, ist es völlig gleichgültig. Sie ist hier und kommt nicht fort. Dabei will sie nichts mehr als das. Fort. Weit fort. Weg von dieser Leere. 
Sie ändert die Richtung. Wankt nicht zu der Hütte. Sie geht sehr weit. Es ist anstrengend und sie muss immer wieder Pausen einlegen. Doch sie schafft es. Schließlich steht sie in dem Wald, hinter dem das Schloss des Prinzen liegt. Sie steht an einer Stelle an der sie, auf dem Weg zu den Bällen, hunderte Male vorbeigefahren ist. Eine sehr abschüssige Stelle. Es geht weit runter. Unten sind nur Steine. Große, dunkle Steine. Sie atmet einmal durch. Lässt ihren Stock fallen. Kippt nach vorne. Sie fällt nur kurz. Mit einem Klatschen landet ihr Körper auf den Steinen. Dort bleibt sie liegen. Oben fahren Dutzende Kutschen über den Waldweg. Auch Wanderer kommen vorbei. Doch niemand schaut in den Graben hinab. 
Sie ist im Tod so einsam wie sie es im Leben gewesen ist. 

Sie erwacht auf ihrem Bett. Mit dem Gesicht auf dem aufgeschlagenen Notizbuch. Der Stift rollt zu Boden, als sie sich aufsetzt. Sie ist verwirrt. Kann nicht glauben, dass das alles wirklich nur ein Traum gewesen sein soll. Es fühlte sich so echt an. Mit wackeligen Beinen schleicht sie zu ihrem Spiegel. Wagt es kaum hinein zu sehen. Als sie es schließlich tut, schreit sie vor Freude. Ihr ganz normales Gesicht blickt ihr entgegen. Ihre Mitbewohnerin klopft und fragt ob alles in Ordnung sei. Sie erwiedert überschwenglich, dass es niemals besser gewesen sei. 
In der Uni verabschiedet sie sich von den Mädchen die sie nicht mag und entschuldigt sich bei ihren Schulfreundinnen. Die lassen sie eine ganze Weile zappeln, akzeptieren die Entschuldigung aber schließlich. Als ihr das geglückt ist, nimmt sie allen Mut zusammen, um sich auch bei dem jungen Mann zu entschuldigen, der sie um Gesellschaft beim Kaffetrinken bat. Der ist darüber mehr als erstaunt. Vor allem, als sie ihm dann auch noch einen Kaffee ausgibt und sie sich eine ganze Weile unterhalten. Sie stellt fest, dass er gar nicht langweilig ist. 
Als sie an diesem Abend von der Uni nach Hause geht, sieht sie einen Bettler an einer Straßenecke sitzen. Er hält den Kopf gesenkt, hat sich in eine braune Decke gewickelt, trägt eine Mütze und murmelt vor sich hin. Vor ihm steht eine schlichte, schiefe Tonschale, in der etwas Kleingeld liegt. Sie geht zu ihm und wirft eine handvoll Münzen in die Schale. >>Danke.<<, nuschelt er und schaut auf. Sein Gesicht ist voller Narben und über dem linken Auge trägt er eine Klappe. Entgeistert starrt sie ihn an. >>Alles klar, Missi?<<, fragt er brummig. >>Ja...aber....ach nichts.<< Sie geht eilig weiter. Und hört ihn murmeln: >>Hier gehörste hin.<< Erschrocken bleibt sie stehen. Dreht sich um. Der Bettler sitzt so da, wie in dem Moment als sie auf ihn zu ging. Er murmelt nur unverständliches Zeug. Ihre Fantasie muss ihr einen Streich gespielt haben. Etwas anderes ist auch nicht möglich. 
Oder? 
  
Lillith Lefuet am 25.05.17 

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